Voller Überraschungen und grossartiger Missverständnisse

Via Lewandowsky im Gespräch mit Jens Rönnau

Bis kurz vor der Wende lebte der 1963 in Dresden geborene Via Lewandowsky in seiner Heimatstadt, hatte aber bereits Ausstellungen in Westdeutschland. In den Jahren 1985 bis 1989 betrieb er mit den „Autoperforationsartisten“ subversive Performances zwecks Unterwanderung des offiziellen DDR-Kunstbetriebs – eine Haltung, die er im Kunst- und Gesellschaftsbetrieb bis heute weiter pflegt. Paradoxien wie auch tragisch-komische Elemente gehören dazu, wobei er engagiert die aktuellen gesellschaftspolitischen Diskurse aufgreift. “HOKUSPOKUS” nennt Lewandowsky eine seiner jüngsten großen Ausstellungen, die bis Januar 2016 in der Kieler Kunsthalle zu sehen war und anschließend bis Ende Mai in variierter Form im Museum der bildenden Künste Leipzig. Große neue Arbeiten sind dafür entstanden, die teils die Vergangenheit des Künstlers in der DDR berühren, wie die großen Leuchtbuchstaben «SIEG“, inspiriert durch den einstigen Hochhaus-Slogan „DER SOZIALISMUS SIEGT“, dazu eine monströse „entwurzelte“ Straßenlampe. Ein Schwerpunkt der Ausstellungen war das Thema Religion. Mit Objekten, Fotografien, Soundarbeiten und raumgreifenden Installationen mischt Via Lewandowsky allerlei Konventionen auf – zugleich verrückt er das Normale zum Poetisch-Zauberhaften.

Jens Rönnau: Deine letzten großen Ausstellungen liefen in Kiel und Leipzig. In Kiel hattest Du sie gemeinsam mit Anette Hüsch und Veronika Deinzel vorbereitet. Sie beginnt im Foyer der Kunsthalle und zieht sich durch die großen Schauräume bis zur Empore mit ihren zwei Studio-Räumen. Wie war dein ursprünglicher Plan für die Abfolge der Werke?

Via Lewandowsky: Uns war sehr schnell klar, dass die Ausstellung zusammen mit den eigens für die Kunsthalle Kiel entwickelten Neuproduktionen viele Arbeiten zeigen würde, die bereits in unterschiedlichen Zusammenhängen zu sehen waren. Es brauchte also ein Ordnungssystem, dass einerseits die verschiedenen künstlerischen Genres der Arbeiten sowie ihre Inhalte dem Thema entsprechend bestimmten und dass andererseits dem Besucher auch die Betrachtung der jeweiligen Arbeiten einzeln ermöglichte. So entstand eine Liste, die gleichzeitig die fünf Ausstellungsräume bezeichnete: Bühne, Ecken, Modelle, Sound und Licht. Eine recht banale Liste, die aber über ihre ordnende Funktion hinaus auch als Metaebene relationaler Begriffe, wie sie im Katalog Verwendung fanden, nützlich war.

Deine Ausstellungen in Kiel und Leipzig waren gemeinsam geplant – wo hattest Du die wichtigsten Unterschiede gesetzt?

Die Unterschiede ergaben sich zwangsläufig durch die verschiedenen räumlichen Voraussetzungen und natürlich durch den Kurator Frédréric Bußmann. Erweiterungen wurden möglich, wo in Kiel der Raum zu Ende war. Die Inszenierung mit den mehrheitlich gleichen Exponaten ließe an dritter Stelle wieder eine andere Ausstellung zu. Die Dinge sind so gedacht, dass sie sich immer wieder neu ordnen lassen, immer anders gesehen werden können. Das Publikum ist ja auch nicht immer das gleiche. Und die Stimmen zur Leipziger Ausstellung waren ebenfalls voller Überraschungen und großartiger Missverständnisse. Simsalabim sage ich da nur.

Was hat sich durch den Diskurs mit den Kuratoren anders entwickelt? Warum?

Der Blick von Kunstwissenschaftlern auf meine Arbeiten verändert mein eigenes Verhältnis zu Ihnen. Durch eine nicht immer so voraus gedachte kunsthistorische Kontextualisierung werden sie mir manchmal etwas fremd und gehen eigene Wege, aber gerade dadurch öffnen sich auch neue Räume. Im konkreten Fall habe ich erfahren, dass viele meiner Arbeiten tatsächlich eine Kaskade an Missverständnissen auslösen können, ohne dass man sie zwangsläufig falsch versteht. Der Diskurs hat mich dann auch bewogen an der anfänglich vereinbarten Ordnung festzuhalten, obwohl sie mir zu einfach erschien.

Im gemeinsamen Katalog für Kiel und Leipzig folgt ihr wiederum einem anderen Ordnungsprinzip, habt die Werke Oberbegriffen wie Fetisch, Glaube, Mission oder Wunder zugeordnet – nur als anderen Betrachtungswinkel?

Ja und Nein. Ja, weil ein Katalog oft auch ein Begleitbuch, eine Erweiterung und nicht nur eine Dokumentation der Ausstellung ist. Die Dinge anders zu ordnen als in der Ausstellung, hat ja letztlich auch was mit der anderen Repräsentationsform zu tun. Die Bedingungen für eine Ordnung im Raum lassen sich nicht zwangsläufig in einem Buch reproduzieren. Und nein, weil in den Ausstellungen die im Katalog genannten Begriffe real erlebbar waren. Die Begriffe in der Ausstellung zu nennen, wäre selbst im museumspädagogischen Gewand etwas zu didaktisch. Es war uns aber wichtig, dem Titel der Ausstellung „Hokuspokus“ die umgangssprachliche Eindimensionalität zu nehmen. Der Begriff lässt sich nicht mehr etymologisch genau zuordnen. Es gibt zwei Quellen, die von der bewussten missverständlichen Ironisierung des lateinischen „Hoc est enim corpus meum“ beim gottesdienstlichen Abendmahl ausgehen. Das besagt damit bereits, dass man die Eucharistiefeier nicht ganz ernst genommen haben muss, plapperte die lateinische Formel bewusst falsch mit Hokuspokus nach und meinte damit jede Art von hochstaplerischer Täuschung. Diese Geschichte gefällt mir natürlich am besten. Hier ist alles drin, was oft meinen Arbeiten zu Grunde liegt: vorsätzliches Missverständnis und ernsthafter Zweifel. Eine andere Quelle bezieht sich auf die Verbindung des lateinischen Wortes „hoc“ mit dem englischen „hoax“. Im Katalog versuchen wir nun einige Begriffe im Umfeld von Hokuspokus in die Nähe von Kunst zu rücken. Welche Grundbedingungen gehören dazu oder gab es das schon immer, dass die meisten Menschen seit den Höhlen von Lascaux bis zur documenta mit dieser kulturellen Lust nach Täuschung ausgestattet sind?

Du zeigst einen bürgerlich-gedeckten verbrannten Tisch: „Verbrenne, was Du anbetest und bete an, was Du verbrannt hast“ – Warum der Zwischenschritt der Zerstörung?

Auch wenn es im ersten Moment nicht so scheint, geht es in dieser Arbeit um Essen, eine der primären Grundlagen unserer Existenz. Der Kampf um Nahrung war lange Zeit unser anthropologischer Schatten. Seitdem ein Teil der Weltbevölkerung eher das gegenteilige Problem mit Überernährung hat, bekommt der Titel einen seltsamen Beigeschmack. Ausgesprochen wurde diese Aufforderung zur Umkehr im Glaubensgegenstand von Bischof Remigius von Reims bei der Taufe des Merowingerkönigs Chlodwig 1. – und das in einer sehr unruhigen Zeit der Völkerwanderung und der langsamen Auflösung des römischen Reiches. Die tautologische Interpretation des Spruches macht den zum gemeinsamen Essen gedeckten Tisch zum Schlachtfeld. Man wird Zeuge einer soeben geschehenen Katastrophe. Die Zerstörung, in die Gegenwart verlagert, holt die historische Dimension an den heimischen Esstisch. Das Familiäre erscheint bedroht und bedrohlich, die Opfer- Täterlage wird diffus. Der Kampf um Zugang zu Ressourcen hat geopolitische Dimensionen erreicht, die alle Alibis des Unbeteiligtseins in Frage stellen.

Der verbrannte Tisch hat mit Tradition zu tun, erinnert Familienrituale, Abendmahl – in mehreren deiner Werke befasst Du dich mit dem Thema Religion: „Herzenmacher“, „Tischgebet“, „Zen“, „Nimbus“, das Radio mit dem Kruzifix. Was treibt dich in dieser Tiefe zum Thema?

Ich bin in einem Staat groß geworden, wo ich aus dem Schutzraum familiärer Religionsausübung auf den verzweifelten Kampf um Glauben in der Gesellschaft geschaut habe. Ideologische Indoktrinierung ließ sich am besten mit dem im Menschen bereits angelegten Fähigkeiten und der Notwendigkeit zum Glauben bewerkstelligen. Die Kirche wurde durch staatliche Einrichtungen des Religiösen substituiert. Das hatte ja schon bei den Nazis bestens funktioniert. Heute liegt das alles lange hinter uns, aber Glaubensersatz gibt es immer noch, und der taucht in der kapitalistischen Gesellschaft in einer unendlichen Vielfalt auf. Die aktuelle Bedrohung durch den „IS“ wird auf religiösen Fundamentalismus geschoben, dabei handelt es sich, wie wir ja alle wissen, um eine reine Instrumentalisierung von Glauben, um ein sehr attraktives und sorgfältig geplantes Image von Glauben im Dienste der Unterwerfung Andersdenkender. Also Gründe, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, gibt es reichlich.

Letztlich spielt ja auch der Ausstellungstitel „Hokuspokus“ auf Religiöses an – geht es dir persönlich dabei mehr um die eher abschätzig meinende Redewendung oder mehr um die innewohnende Anmutung von Zauber – oder um beides, also das zu provozierende Missverständnis?

Wie ja bereits eingangs erklärt, ist der Begriff für mich in mehrfacher Hinsicht interessant. Einmal, weil er in einer sprachlichen Schmuddelecke zu Hause ist, damit eine kritisch-ironische Aussage hat. Andererseits ist der Titel schwer zu fassen. Die Täuschung kann in der Verharmlosung oder in der vermeintlichen Enttarnung bestehen. Könnte aber tatsächlich sich auch direkt auf mich beziehen: ”Denn dies ist mein Leib …”

Welche Rolle sollte Religion in unserem Leben spielen?

Einen Ratschlag in diesem Punkt von einem Künstler sollte man nicht ernsthaft in Erwägung ziehen. Wie wir nun jedoch in unserer religionsfernen liberalen Gesellschaft feststellen müssen, wird die Bedeutung dieses Themas schwer unterschätzt. Ich muss zugeben, dass ich mir das als Heranwachsender nie hätte vorstellen können. In den 70iger und 80iger Jahren hielt ich Religion für überwindbar. Ich war mir sicher, alles, was damit zusammenhängt, wird eines Tages im Museum landen. Welchen Rat kann ich da noch geben?

Rot leuchtet deine Installationsschrift „SIEG“, davor liegt eine „entwurzelte“ Peitschenlampe samt Fundament – ein Sinnbild für das Sprichwort „Hochmut kommt vor dem Fall“? – Oder was war das für ein Unfall?

Der Titel ist der erste leicht modifizierte Satz von Wittgensteins „Tractatus Logico-Philosophicus“: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“. Das Ansinnen Wittgensteins erscheint uns heute absurd. Er wollte mit dieser philosophischen Abhandlung der Philosophie seiner Zeit etwas an die Hand geben, womit man Sinn und Unsinn philosophischer Aussagen voneinander unterscheiden kann. Es entstand in einer Zeit, da das Bauhaus und Ernst Neufert eine Formenlehre entwickelten, die zwar die Industrialisierung der Architektur beflügelte und heute noch so verbreitet wird, aber auch ein Ende handwerklicher Vielfalt bedeutete. Der erste Raum nimmt damit Bezug auf das Ende der Utopien. Die gekippte Peitschenlampe ist Teil eines öffentlichen Raumes, der ein Schlachtfeld aus Kontroversen geworden ist, und wo die Utopien als sinnentleerte Gespenster umherirren. Der Schriftzug könnte daher auch das Logo eines multinationalen Konzerns sein. Während die Wartung der Peitschenlampe tatsächlich ein Mirakel mit einer gewissen Akte-X-Qualität offenbart. Aber selbst das Unheimliche hat in diesem Teil der Welt keine Ruhe vor der Vergangenheit: aus dem Inneren der ausgelaufenen Lampenschale dringt beschwingt Django Reinhardt.

…der ja einerseits in die Bauhauszeit passt, aber andererseits symbolisch beladen ist als Erfolgsmythos der Sinti und Roma, die besonders in der damals politisch vergifteten Gesellschaft höchst bedroht waren. Steht denn diese gestürzte Laterne insofern quasi als Patient nicht nur für jene verkommenen Utopien, von denen Du sprichst, sondern generell auch für die verkommenen Werte einer Gesellschaft – also beispielsweise zur Zeit des Nationalsozialismus oder des DDR-Sozialismus, auf den ja die Schriftarbeit anspielt?

Django Reinhardt ist tatsächlich das Gegenbild zu den Parolen einer Diktatur des Proletariats. Er verkörpert mit seiner Musik reines Vergnügen jenseits aller Ideologien. Er hat durch seine Musik die Besatzungszeit in Paris überlebt, während viele Angehörige seiner Volksgruppe umgebracht wurden. Im Vordergrund steht aber diese abstruse Situation der auslaufenden Lampenabdeckung einer umgekippten Peitschenlampe, die vor sich hinträllert. Sie hätte auch schwer atmen oder wie im Fieberwahn vor sich hin murmeln können. Es ist wie etwas, das man nicht tot kriegt, das aber alles gesehen hat und Kronzeuge einer übermächtigen Geschichte geworden ist.

Und das Baustellenzelt wäre dann das Lazarett-Zelt für politische Erste Hilfe?

Wieso Lazarett, wieso politische Hilfe? Es geht hier einfach um etwas, das man unbedingt in Ordnung bringen muss. So etwas ist zwar noch nicht vorgekommen, aber man wird es reparieren. Auf jeden Fall. Es ist doch nur eine Straßenlampe.

Du hast gerade für ein Bühnenbild zu Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ wiederum Straßenlaternen als Symbol für Stadt gewählt. Gibt es für dich Bezüge zwischen jenen Laternen und der „entwurzelten“ in Kiel?

Sag doch bitte nicht Laterne, das klingt so romantisch und niedlich. Wir reden hier von einer 8 Meter hohen Peitschenlampe. Im Theater fahren drei von diesen Lampen über die Bühne und verdrehen ihre Lampenköpfe. Ein unglaubliches Bild. Hier wie da sind sie natürlich Ausdruck von einsamen, in der Nacht beleuchteten Vorstadtschnellstraßen. Diese Lampe gibt es überall, sie steht bei Wind und Wetter an allen Orten dieser Welt, in Industriegebieten in China oder an der Seepromenade von Zürich. Sie stand aber auch an der innerdeutschen Grenze. Sie ist für mich ein stiller Beobachter tagtäglichen und nächtlichen Geschehens.

Und Wittgenstein – kann er mit seiner Welt aus „Fällen“ überhaupt weiterhelfen bei der Frage um gescheiterte Utopien? Oder steht sein Satz aus „Tractatus Logico-Philosophicus“ gar selbst für eine gescheiterte Utopie – als umgekipptes Licht?

Man sollte das eher umgekehrt denken. Es ist ein Beispiel für einen Fall, der die Welt ist.

Dein monströser Wackel-Hochsitz scheint einen im nächsten Moment zu erschlagen – ein Anschlag auf den deutschen Jäger? Symbol wankender Gesellschaftsordnungen? Oder weniger – oder mehr?

Es ist zwar schön, wenn man immer alles groß denkt, aber hier geht es wirklich nur um Jagd oder einen verwirrten Jäger. Der Hochsitz ist eine exponierte Insel im Wald, auf die man sich zurückziehen kann. Nah dran, aber weit genug weg, um nicht überrascht zu werden. Es ist einer dieser Orte, die vom Benutzer gewisse Befähigungen verlangen, die nicht ohne Entbehrungen zu meistern sind. Stundenlanges Warten, Verharren und ins Dunkel Starren. Konzentration wird zur Meditation. Jetzt beginnt er zu schwanken wie die Bäume um ihn herum. Die Welt des Jägers beginnt aus unserer Sicht zu wanken. Die beobachtete Landschaft wird zur Augentäuschung, der Mensch da oben ist nicht mehr Herr der Lage.

In der Galerie zeigst Du Fotografien von dir, zu denen dein Freund Durs Grünbein Texte gemacht hat. Wie kommt es zu eurer Zusammenarbeit und wer findet die Themen?

Die Serie „Gott führt keine R-Gespräche“ ist ein endloses Gespräch zwischen dem Dichter Durs Grünbein und mir. Grundlage für die fortlaufende Photo-Prosa sind Fotomotive, wie sie jeder sammelt und hat. Für mich sind sie Notizen, Erinnerungen und enthalten oft Ideen für mögliche Arbeiten. Ein Archiv, was wohl jeder Künstler führt. 2007 habe ich eine Auswahl der Fotos unter dem Thema „Kein Thema“ ausgestellt und 2009 in der Ausstellung „14 Seufzer, versenkt“ gezeigt. Beide Male blieben es Fotos, die sich in die Reihe vieler Schnappschuss-Archive reihte. Erst 2010 wurden sie zu den durch Durs Grünbein kommentierten Fotos. Durch das Beschreiben entsteht einerseits ein Autograph, andererseits wird das Foto zum Ready-made, zum bildnerischen Fundstück. Das Lapidare bekommt jetzt einen Sinn durch die Geschichten von Durs Grünbein, die sich wiederum an meinen Metadaten zum Foto orientieren.

In anderen Häusern, etwa 2014 im römischen Goethemuseum oder im Berliner Verteidigungsministerium, hast Du dich mit deinen Werken auf die Geschichte dieser Orte bezogen – gab es in den Ausstellungen in Kiel und Leipzig solche Bezüge?

Es gibt da eine ganze Reihe von Verbindungen. Die drei großen für die Ausstellung angefertigten Installationen sind inspiriert vom Charakter der Landschaft und des Ortes im Norden. In Leipzig kamen Arbeiten dazu, die sich noch zusätzlich mit dem Bildermuseum und seiner kulturellen Vergangenheit auseinandersetzten.

„Au Au“ – „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ hattest Du erfolglos für ein Offizierskasino der Bundeswehr angeboten – waren die noch nicht so weit wie der Verteidigungsminister 2003?

Die Dynamik in Wettbewerben ist oft nicht rational nachvollziehbar. Ich bin mir sicher, dass die gleiche Jury zwei Tage später wieder ganz anders entschieden hätte. Ganz zu schweigen davon, wenn man Juryentscheidungen noch einmal um Jahre verschoben neu überdenkt. Nur macht das niemand. Der Einzige, der vielleicht erkennen muss oder sogar weiß, dass sein Vorschlag alternativlos besser gewesen wäre, sitzt mit sich selbst im Kämmerlein und hält die Erinnerung an die nicht realisierte Arbeit für sich wach. Daraus kann Jahre später noch etwas entstehen. Beim „Roten Teppich“ fürs Verteidigungsministerium ist es genau andersrum – er würde heute erst recht keine Chance haben. Hier spielten glückliche Umstände dem Schicksal in die Hände. Anfänglich war er auch nicht beliebt, mittlerweile ist man aber sehr stolz darauf, dass man damals so mutig war. Es bleibt eine Ausnahme.

2011 zeigtest Du im Jüdischen Museum in Berlin in der Ausstellung „Heimatkunde“ deine Installation „Windhauch, Windhauch“. Wer hätte da gesessen haben können? Und welche Rolle spielte dein Dichterfreund Durs Grünbein dabei?

Durs Grünbein war als Dichter bei diesem Projekt zwar der wichtigste, aber genauso auch ein künstlerischer Partner wie der Musiker Saam Schlamminger und der Architekt Alexander Lubic. Jeder hat auf seine Weise die endgültige Form dieser Arbeit mitbestimmt. Es ist klar, dass diese Warteraumsituation sich nirgends in dieser Welt so hätte zutragen können. Trotzdem spielen hier stereotypische Elemente eine große Rolle. Die seltsam bekannt scheinende Grundstruktur aus normierten Baumaterialien bilden am Ende das einzige Reale in diesem Raum. Denn es ist nur schwer vorstellbar, dass sich Wartende in einen Dialog mit Sätzen aus dem Buch Kohelet verständigen. Die wenigen trivialen Zwischenbemerkungen sind von den Schauspielern beim Einsprechen improvisiert worden. Durs Grünbein hat mit dem Vorschlag und der Auswahl, aus diesem Teil der Bibel die Dialoge zu bestreiten, eine entscheidende Richtung für die spätere Wahrnehmung der Installation gegeben. Die hörspielartige Toncollage bleibt bei aller realistischer Anmutung abstrakt und bildet eine Art Hyperrealität, in der die Satzfetzen, das Gemurmel und die seltsamen nicht zuordenbaren Geräusche atmosphärisch an einen Film erinnern, nur dass der Besucher wie in einem «angehaltenen Film sitzt, bei dem der Soundtrack weiterläuft – ein reines Konstrukt, für das man sich das Publikum ausdenken müsste.

Warum war diese Toncollage jetzt losgelöst in den Ausstellungen zu sehen?

Es hätte kein Sinn gemacht den Warteraum wieder herzurichten. Er wäre durch all die anderen Raumbeispiele in der Ausstellung marginalisiert worden. Manchmal braucht es nur den richtigen Ton – und das Bild entsteht von ganz allein.

Das Gespräch ist erschienen in Kunstforum Band 424, 2016